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Johann Adam Möhler

Der Wegbereiter des modernen Katholizismus

[Über das Verhältnis der kirchlichen Auslegung der heiligen Schrift zur gelehrtwissenschaftlichen.
Patristische Autorität und freie Forschung.]
Fortsetzung

Wenn wir aber an den Beschluß von Trient erinnert werden, der den Katholiken anweist, nach dem einstimmigen Zeugnisse der heiligen Väter die Schrift zu erklären, wie können wir dem Vorwurf entgehen, daß eine durchweg geheiligte Exegese schon seit Jahrhunderten bestehe und darum an ein fortschreitendes Verständnis der heiligen Schrift gar nicht zu denken sei? Ehe wir über diesen Gegenstand die katholische Betrachtungsweise vorlegen, dürfte es zweckmäßig sein, zuvor die kirchlichen Grundsätze über das Verhältnis der patristischen Autorität [der Autorität der Kirchenväter] zur wissenschaftlichen Forschung überhaupt in möglicher Kürze mitzuteilen. Wer sich bemüht, die Schriften der heiligen Väter zu studieren, wird ohne besonderen Scharfsinn die Entdeckung machen, daß sie sich bei aller Übereinstimmung im kirchlichen Dogma mit der reichsten Mannigfaltigkeit über die christliche Glaubens und Sittenlehre verbreiten; in der Art und Weise, in welcher sie sich das Eine Evangelium aneignen, die Wahrheit desselben nach Außen beweisen, nach Innen entwickeln, über dasselbe philosophieren und reflektieren, prägt sich die Individualität eines Jeden aufs Sprechendste aus; der Eine erfreut sich eines tieferen, der Andere eines schärferen und klareren Blickes, der Eine wuchert mit diesem, der Andere mit jenem Pfunde. Während sich nun alle Katholiken zu demselben Dogma, wie die Kirchenväter, freudig bekennen, hat das Individuelle, das rein Menschliche der letzteren nur so viel Wert für sie, als es Gründe für sich darbietet, oder als eine besondere Wahlverwandschaft zwischen einem Vater der Kirche und einem später lebenden Katholiken stattfindet. Diese Grundsätze wurden durch alle Zeiten der Kirche hindurch ausgesprochen, und in Anwendung gebracht; es gelang nie einem Kirchenvater, selbst dem angesehensten nicht, seine besonderen Meinungen der Kirche aufzudrängen; wie dies ganz vorzüglich Augustinus beweist. Welcher Schriftsteller erwarb sich je eine größere Autorität, als er? Gleichwohl wurde seine Theorie von der Erbsünde und der Gnade nicht Kirchenlehre, und gerade darin zeigte er sich als einen wahren Katholiken, daß er uns selbst die Erlaubnis gab, seine besonderen Meinungen zu prüfen, und nur das Gute zu behalten. Uebrigens ist der Ausdruck "Lehre der Väter" häufig auch gleichbedeutend mit "Tradition"; in diesem Sinne werden sie als Repräsentanten der gläubigen Vorzeit, als Durchgangspunkte und Zeugen der Erblehre betrachtet, keineswegs inwiefern sie über tausend Dinge ihre besonderen Ansichten und Spekulationen darlegen. Von diesem Gesichtspunkte aus, wo nicht sie sprechen, sondern der Glaube der allgemeinen Kirche durch sie sich kund gibt, haben sie allerdings eine bestimmende Autorität; es ist jedoch nicht die ihrer Person, sondern Tradition, durch welche sie selbst bestimmt wurden, und welche sie nur wiedergeben. In dieser Beziehung stimmen wir notwendig mit ihnen überein, weil Eine Glaubenslehre durch die ganze Geschichte der Kirche vorhanden ist, und vorhanden sein soll. Wir wollen und können nichts Anderes glauben, als was unsere Väter auch geglaubt haben; aber ihre Besonderheiten mögen wir uns aneignen oder auch nicht. Die uns mit ihnen gemeinsame Wahrheit wurde ohnedies, wie bereits anderwärts gesagt worden ist, im Verlaufe der Zeit durch die schönsten geistigen Kräfte, die sich ihrer Verteidigung ungeteilt widmeten, oft tiefer ergründet, in allseitigerer Beziehung und umfassenderen Zusammenhange angeschaut, so daß ein stetes Wachstum in der christlichen Erkenntnis statt findet, und immer mehr und mehr die Geheimnisse Gottes sich erschließen. In sofern sind also die Kirchenväter für das subjektive Eindringen in die an sich unveränderliche Heilslehre durchaus nicht maßgebend, und kein Stillstand ist durch sie geboten.

Auf eine ähnliche Weise verhält es sich nun auch mit ihrer Schrifterklärung. Wir wüßten nicht, worin, mit Ausnahme der Erklärung sehr weniger klassischer Stellen, eine allgemeine Übereinstimmung derselben angetroffen würde, als darin, daß Alle dieselbe Glaubens und Sittenlehre aus den heiligen Schriften entwickeln, jedoch ein Jeder in seiner besonderen Weise, so daß Diese als ausgezeichnete Schrifterklärer für alle Zeiten Muster sind, Andere sich nicht über das Mittelmäßige erheben, und noch Andere nur durch ihren guten Willen und ihre Liebe zum Heilande ehrwürdig sind. Wie in dieser Weise unter ihnen selbst Einer über den Anderen hervorragt, und durch exegetischen Takt, Feinheit und Scharfsinn, durch Geistesverwandtschaft mit dem zu erklärenden Schriftsteller, durch den Umfang der zur Auslegung mitgebrachten sprachlichen und geschichtlichen Bildung voransteht, so mag und wird Dies für alle Zeiten der Fall sein; aber dasselbe Dogma, dieselbe Moral werden Alle, gleich den Kirchenvätern in der heiligen Schrift finden; jedoch wohl in anderer Art: wir werden Dasselbe, aber oft nicht auf dieselbe Weise, zu Tage fördern. Umfassendere Sprachkenntnisse und reichere Hilfsmittel jeder Art, die die neuere Zeit darbietet, setzen uns in den Stand, ohne im Mindesten von der einstimmigen Auslegung der Kirchenväter abzuweichen, doch Manches besser und gründlicher als sie zu erklären. Die besseren katholischen Exegeten seit der Reformation von Thomas de Vio, Contareni, Sadolet, Masius, Maldonado, Justinian, Estius, Cornelius a Lapide an, bis auf unsere Tage herab, liefern für das Gesagte den Beweis, und die Untersuchungen der Schriften mehrerer Kritiker, des Richard Simon, Hug, Jahn, Feilmoser und Anderer werden eben nicht beweisen, daß die früheren Theologen den späteren Nichts zu tun übrig ließen, als ihre Werke aufs Neue herauszugeben. Sodann, worin liegt das Unwürdige, daß wir noch heute dieselben Wunder der göttlichen Weisheit und Barmherzigkeit in der heiligen Schrift verehren, wie unsere Väter vor vierzehn und achtzehn Jahrhunderten? Liegt das Unwürdige in der Kurzsichtigkeit unseres Verstandes, der nicht einzusehen vermag, daß so einfache Schriften, wie die heiligen Bücher, gerade in jener Zeit, in welcher sie herausgegeben, und in jenen Gemeinden, welchen sie gegeben wurden, ihrem wesentlichen Inhalte nach nicht sollten verstanden worden sein? Sollen wir also das Unwürdige darin finden, daß wir nicht begreifen können, wie ein Zeitalter, das der Verfassung der Bibel am nächsten war, etwa gar von ihrer wahren Auffassung sollte am entferntesten gewesen sein? Oder besteht es darin, daß wir die Annahme für wunderlich halten, die christliche Kirche sei in den Sinn ihrer heiligen Urkunden damals nicht eingedrungen, wo sie wahrhaft weltumschaffend wirkte, das Judentum besiegte, das Heidentum zerstörte, und alle Mächte der Finsternis überwand? Daß wir uns also nicht zur Überzeugung erheben können, die Nacht sei durch die Finsternis, und die Wahnbilder durch den Irrtum beseitigt worden? Oder liegt das Unwürdige in der Vorstellung, daß die heilige Schrift unmöglich die Bestimmung erhalten haben könne, je nach Ablauf von fünfzehn Jahren, oder wohl gar unter der Hand eines jeden ihrer Erklärer einen wesentlich anderen Inhalt, als sonst, durch ein göttliches Wunder erst zu empfangen? Da sich endlich, und Dies ist die Hauptsache, die katholische Kirche als diejenige Stiftung des Herrn anschaut, in welche seine Heilslehre und das Verständnis derselben durch den unmittelbaren Unterricht der Apostel und die Kraft des göttlichen Geistes übergegangen ist, so stimmt ihre Forderung, die Schrift, in welcher ja dieselbe Heilslehre unter Leitung desselben Geistes niedergelegt ist, nach ihrer Glaubensregel auszulegen, mit den Forderungen einer echt historischgrammatischen Interpretation vollkommen überein, und gerade die gelungenste Auslegung dieser Art müßte am treffendsten ihre Lehren wiedergeben. Von ihrem Standpunkte aus erscheint es ihr demnach ganz unverständlich, wie ihre Forderung mit den Gesetzen einer wahren und allein so zu nennenden Exegese nicht sollten vereinbar sein, oder vielmehr, wie der sonst tüchtige Ausleger durch ihre Norm unterstützt, nicht gerade der ausgezeichnetste werden sollte. Die Protestanten dagegen gehen von dem Vorurteil aus, daß einmal die Eigentümlichkeiten der katholischen Kirche nicht schriftgemäß seien, und folglich ihr Auslegungsprinzip ein äußerlich aufgezwungenes, darum willkürliches und unnatürliches genannt werden müsse, ein Vorurteil, das der Katholik eben auch nur als ein solches betrachtet, und als jeglichen festen Grundes entbehrend abweist.

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