Möhler
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Johann Adam Möhler

Der Wegbereiter des modernen Katholizismus

Über das Verhältnis der kirchlichen Auslegung der heiligen Schrift zur gelehrtwissenschaftlichen.
Patristische Autorität und freie Forschung.


Nachdem nun der Begriff der dogmatischen Tradition und der kirchlichen Auslegung der heiligen Schrift vollständig entwickelt ist, muß, um den seltsamsten Mißverständnissen zu begegnen, auch noch von dem Verhältnisse der gelehrten Erklärung der biblischen Bücher zu der von der Kirche ausgehenden, das Notwendigste gesagt werden. Die Auslegung der Kirche beschäftigt sich schon gar nicht mit allen den Einzelheiten, welche die Aufmerksamkeit des wissenschaftlich verfahrenden Exegeten in Anspruch nehmen; sie hält es nicht für ihre Pflicht, und nimmt es darum auch nicht in den Umfang ihrer Rechte auf, z.B. zu bestimmen, wann, von Wem und zu welchem Zwecke das Buch Hiob verfaßt worden sei; welche besondere Veranlassung Johannes zur Herausgabe seines Evangeliums gehabt habe, und der Apostel Paulus, einen Brief an die Römer zu richten, in welcher Zeitordnung sich die Briefe eben dieses Boten des Herrn folgen usw.; sie erklärt ebenso wenig die einzelnen Worte und Verse, den Zusammenhang derselben unter sich, oder die Verbindung, welche zwischen größeren Massen eines heiligen Buches stattfindet; auch die Antiquitäten [Gegenstände der Archäologie] im ganzen Umfange dieses Wortes fallen nicht in den Kreis ihrer Auslegung; mit einem Worte: ihre Erklärung erstreckt sich nur auf die Glaubens und Sittenlehre. Dies über den Umfang ihrer Auslegung. Was aber die Art und Weise derselben betrifft, so erklärt sie nicht nach den Regeln und den bekannten Hilfsmitteln einer historischgrammatischen Interpretation, durch welche der Einzelne in den Sinn der heiligen Schrift wissenschaftlich einzudringen sich bemüht; vielmehr bezeichnet sie den Lehrinhalt derselben im Gesamtgeiste eben dieser heiligen Schrift. Die ältesten ökumenischen Synoden führten daher für ihre dogmatischen Beschlüsse nicht einmal bestimmte biblische Stellen an; und die katholischen Theologen lehren mit allgemeiner Übereinstimmung und ganz aus dem Geiste der Kirche heraus, daß selbst die biblische Beweisführung eines für untrüglich gehaltenen Beschlußes nicht untrüglich sei, sondern eben nur das ausgesprochene Dogma selbst. Der tiefste Grund von diesem Verfahren der Kirche liegt in der unbestreitbaren Wahrheit, daß sie nicht erst durch die heilige Schrift gegründet wurde, sondern schon bestand, als die einzelnen Teile derselben erschienen; die Gewißheit, die sie von der Wahrheit ihrer Sätze hat, ist eine unmittelbare, da sie ihr Dogma aus dem Munde Christi und der Apostel vernahm, und dasselbe ihrem Bewußtsein, oder, wie Irenäus sich ausdrückt, ihrem Herzen, durch die Kraft des göttlichen Geistes unauslöschlich eingeprägt ist. Müßte die Kirche erst durch eine gelehrte Untersuchung ihr Dogma gewinnen, so setzte sie sich mit sich selbst in den ungereimtesten Widerspruch und vernichtete sich; denn, indem die Kirche es wäre, die da untersuchen soll, würde sie als seiend vorausgesetzt, zugleich aber auch als nicht seiend, indem sie ihr eigentliches Sein, Das, wodurch und worin sie lediglich ist, die göttliche Wahrheit erst gewinnen sollte. Sie würde sich selbst suchen, Was nur ein Wahnsinniger könnte; sie gliche Dem, der durch Forschung in den von ihm geschriebenen Papieren erst entdecken wollte, ob er wirklich existiere! Der wesentliche Inhalt der heiligen Schrift ist der Kirche ewig gegenwärtig, weil er ihr Herzensblut, ihr Odem, ihre Seele, ihr Alles ist. Sie besteht nur durch Christus, und sollte diesen erst ausfindig machen! Wer je auch nur mit einigem Ernst darüber nachgedacht hat, was es heißt, wenn Christus sagt: "ich bin bei euch bis ans Ende der Welt," wird die Anschauung der katholischen Kirche von sich selbst wenigstens begreifen.

Das Gesagte enthält nun aber auch die Bestimmungen über die Schranken und die Freiheiten des katholischen Gelehrten in der Erklärung der heiligen Schrift. Es versteht sich von selbst, daß hier nicht von der allgemeinen menschlichen Freiheit die Rede ist, durch welche ein Jeder auf die Gefahr seiner Seele hin, gleich den Juden und Heiden, die heiligen Bücher für das Werk von Betrügern oder Betrogenen, für ein Gemisch von Wahrheit und Irrtum, von Weisheit und Torheit halten, überhaupt ganz nach Willkür verstehen und auslegen kann; diese Freiheit besitzt der Katholik als Mensch gleich dem Protestanten: nur von jener Freiheit wird hier gesprochen, die der Katholik genießt, wenn er seine Eigenschaft als Katholik nicht aufgeben will; denn wenn er die genannte Ansicht von den heiligen Schriften gewinnen sollte, verzichtete er darauf, unserer Kirche anzugehören. Als Katholik hat er die freie Überzeugung, daß die Kirche eine göttliche, von einem höheren Beistande gehaltene Anstalt sei, welcher sie in alle Wahrheit führt, daß daher keine von ihr verworfene Lehre in der Schrift enthalten sei, daß das kirchliche Dogma vielmehr durchaus mit dieser übereinstimme, wenn auch manche Einzelheit nicht wörtlich in ihr vorgetragen werde. Hienach ist er überzeugt, daß z.B. die heilige Schrift nicht lehre, Christus sei ein bloßer Mensch, vielmehr ist es ihm gewiß, daß sie ihn zugleich als Gott darstelle: inwiefern er sich nun hierzu bekennt, steht es ihm nicht frei, sich auch zum Gegenteil zu bekennen, weil er sich selbst widersprechen würde, so wenig Derjenige, der sich entschlossen hat, keusch zu bleiben, unkeusch sein kann, ohne seinen Entschluß zu verletzen. Dieser Beschränkung, die Jedermann höchst wahrscheinlich für vernünftig halten wird, unterwirft nun auch die katholische Kirche ihre Genossen, und darum auch die gelehrten Schriftforscher; eine Kirche, welche einen Jeden ermächtigte, Was immer in der Schrift zu finden, ohne irgend einen Fund für unkirchlich zu erklären, spräche von sich aus, daß sie gar Nichts glaubte, und gar keines Inhaltes sich erfreute, denn der bloße Besitz der Bibel macht noch keine Kirche, so wenig Jemand durch den Besitz der vernünftigen Anlage schon wirklich vernünftig ist. Eine solche Kirche stellte in der Tat als moralische Person den berührten Widerspruch dar, welchen eine physische nicht in sich aufnehmen könnte. Das Individuum vermag keineswegs in derselben Zeit einen bestimmten Lehrsatz zu glauben und nicht zu glauben; wenn aber eine Kirche, die aus einem Vereine von vielen Individuen besteht, einem jeden Anhänger, als solchem, gestattete, nach Gutbefinden einen Glaubensssatz anzunehmen oder zu verwerfen, so enthielte sie in sich jenen Widerspruch, und wäre das für die entgegengesetzten Ansichten indifferente glaubensleere Unding, das man unsertwegen mit den schönsten Prädikaten beehren darf, aber nur nicht Kirche nennen soll. Die Kirche soll für das Reich Gottes erziehen, welches auf bestimmten Tatsachen und Wahrheiten beruht, die ewig unveränderlich sind; eine Kirche also, die keine solche unveränderliche Positionen kennt, gleicht einem Lehrer, der nicht wüßte, Was er lehren soll; die Kirche soll Christum in der Menschheit ausprägen: dieser ist aber nicht bald ja, bald nein, sondern ewig derselbe: das vom Himmel herabgekommene Wort soll sie in die Herzen der Menschen hineinsprechen: dieses ist aber kein leerer, unbestimmter Schall, aus dem gemacht werden kann, Was man nur immer will.

Daß hienach die Grundsätze der katholischen Kirche mit der Idee einer positiven Kirche übereinstimmen, und die Forderung, die sie an die ihrigen stellt, die Glaubens und Sittenlehre nämlich, die sie als biblisch anerkennen, auch in der Bibel, wenn sie dieselbe wissenschaftlich erklären, wieder zu finden, sich von selbst verstehe, dürfte einleuchtend geworden sein. Im Übrigen bekennt sich Niemand, der sich an die katholische Kirche anschließt, zu irgend etwas Anderem, als zu ihrer Glaubens und Sittenlehre; da sie nun nur in dieser Beziehung den Sinn der heiligen Schrift ausspricht, und zwar nur ganz im Allgemeinen, so ist auch der gelehrte Exeget durch sein kirchliches Bekenntnis zu nichts Weiterem verbunden, und es bleibt ihm ein weites Feld eröffnet, auf welchem er sein Talent, seine exegetische Kunst, seine philologischen und antiquarischen Kenntnisse erproben und für die Fortbildung der Wissenschaft nützlich verwenden kann.

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